Die Hochzeit


Autor: Luiza Lobo
Título: Die Hochzeit
Idiomas: deu
Tradutor:
Data: 29/12/2004

DIE HOCHZEIT

Luiza Lobo

Sie wußte nicht, woher sie die Kraft genommen hatte, das ganze Leben Grundschullehrerin zu sein. Ihre schönsten Träume hat sie in den Tränen auf dem Kopfkissen gelassen. Lateinamerika ist sehr gewaltsam. Nicht einmal hat sie sich eingemischt, aus Angst, einen Schuß in den Kopf zu bekommen. Und danach, es könnte ja sein, ihr Körper würde aus einem Flugzeug heruntergeworfen werden. Ihr Vater, autoritär, hat ihr immer klar gemacht, daß sie zu Hause eine Last war. Aber sie hat nie getraut, ihren Posten als Lehrerin zu verlassen. Sie klammerte sich an die magische Nummer ihres Registers. Nach all den Jahren, das winzige Gehalt, die miserablen sozio-ökonomischen Verhältnisse ihrer Beschäftigung, die Aussichtslosigkeit in ihrem Leben haben sie entdecken lassen, daß sie keine offenen Türen finden würde. Das „Sesam, öffne dich„ der bürgerlichen Ausbildung, die sie bekommen hat, war nichts wert. Was hat die angebliche Stabilität gebracht oder die nicht in Frage zu stellende Respektwürdigkeit ihres Postens als Erzieherin, in einer gewalttätigen kapitalistischen Gesellschaft, wo das einzige Gesetz der Kampf um die Macht des Geldes war?
Sie hat Englisch, Französisch, Klavier spielen, Ballett tanzen gelernt, soviel hat der Vater in Hinblick auf eine perfekte Erziehung bezahlt, was sich hinterher in Form einer angemessenen Eheschließung, weit über ihre sozialen Verhältnisse hinaus, natürlich begleichen würde. Das war eine Art langfristige Investition. Und der Vater würde dafür stabile Aktien bekommen, und zwar solche wie die der New Yorker Börse, nicht wie diese einheimischen aus Rio und Sao Paulo, die wie eine richtige one-man-show sind (inszeniert durch den Naharas, der ganz allein die Börse hoch und runter ließ). Eine ernsthafte und sichere Investition. Sie, verheiratet, und er könnte seinen Freunden gegenüber beim Whiskey-Trinken erwähnen, während er die Eiswürfel hin und her schaukeln würde: „Das ist meine Tochter. Sie ist verheiratet mit Herrn Soundso. Wissen Sie, der Sohn von Herrn X. Er arbeitet bei der Firma von Herrn Y, erinnern Sie sich? Ja, genau der. Exakt. Sie haben ein Haus an der Lagoa Rodrigo de Freitas. Übrigens, es ist lobenswert, daß sie dieses große Haus mit der Steinmauer behalten haben, während alle andere ihre Häuser an große Bauunternehmen verkauft haben.„
Schlimmer als jedes Jahr ärmer zu werden, war die Tatsache, daß sie nicht geheiratet hat. Sie hat es nicht geschafft, zu heiraten. Alle Freundinnen haben geheiratet. Diejenigen, die nicht geheiratet haben, sind ausgewandert oder ins Exil gegangen. Aber sie hat nichts davon gemacht. Sie ist bei den Eltern geblieben, stehen geblieben, ihr Register als Grundschullehrerin geprägt, gedrückt, eingraviert in ihrem Gesicht. Auf der Stirn. Sie würde als Grundschullehrerin sterben. Mit einer winzigen Rente und noch abhängig vom Vater, auch dann, wenn alles für sie vorbei sein würde – das heißt, wenn sie nicht mehr bis zur mittleren Spur des Leopoldina Bahnhofes schleichen mußte, mit dem gehobenen Finger, um zum weiten Santa Cruz zu trampen. Das würde sie dem Vater nie erzählen! Eine gewaltsame Stadt, eine Stadt, die sich haßte, aber was solls, sie mußte unbedingt sparen! Mit diesem Hungergehalt.
Und dann, eines Tages, ist ER erschienen! Sie hat ihn kennengelernt mit seiner Art eines fleißigen Gringo, Frank war gekommen, um die öffentlichen Schulen im Großraum Rio de Janeiro zu inspizieren, mit dem Zweck der Entscheidung über einen Kredit von amerikanischen Banken für die Erziehung in Brasilien (Oh, mein Gott! Noch mehr Auslandsschulden für noch eine Generation). Und dann, wie in einem Hollywoodfilm – ein Glück, das nur Gott erklären kann – war die Direktorin nicht da, und da sie die älteste Englischlehrerin der Schule war (alle anderen hatten mit Hilfe von einflußreichen Politikern ihre Versetzung in die Zona Sul erhalten) wurde sie gerufen, um diese Gruppe von Verwaltungsbeamten zu empfangen – einige von denen sprachen nur Englisch. Sie wurde so rot und so zittrig und so unsicher, da ihr Akzent britisch war, ob das wohl gut wirken würde? Vielleicht würde sie wie eine Portugiesin klingen, die in Brasilien spricht oder umgekehrt? Wahrscheinlich, trotz der puritanischen Maske, würden sie sie innerlich auslachen. Es ging alles so schnell. Er hat ihr angeboten, sie im Auto zur Zona Sul mitzunehmen, gleich nachdem die Inspektion zu Ende war. Es war furchtbar schwierig, die Küchenangestellte davon zu überzeugen, daß sie den Rest Kaffeepulver (die Lehrer legten zusammen, um ihn wöchentlich zu kaufen) für die Besucher aufbrauchen sollte, und es war unmöglich zu überspielen, daß die Tassen gesprungen und fleckig waren und nicht zu den Untertassen paßten.
Im Auto hat sich Frank als eine fast zu extrovertierte Person gezeigt. Er schien sogar ein bißchen verrückt zu sein. Er lachte ganz laut ohne Grund. Er hat gestanden, daß sein Lieblingshobby das Lesen von Krimis war. Jedoch war was ihn wirklich interessierte der psychologische Aspekt der Opfer. Ihre Reaktionen. Die Auflösung ihres Lebens. Das Verbrechen, die Tat, die Bewegung der Handlung waren ihm nicht wichtig. Sie hörte stumm zu, die Augen festgenagelt auf die Avenida Brasil, ihm von der Seite Blicke wie Pfeile zuwerfend, von Schüchternheit festgefroren. Er fragte sie, wie sie es machte, jeden Tag zur Arbeit zu kommen, so weit entfernt. Sie antwortete, daß sie jeden Tag per Anhalter fuhr (sie nutzte nicht die regelmäßigen, gesetzlich erlaubten freien Tage, sondern arbeitete strikt jeden Tag, anders als die meisten Lehrerinnen an öffentlichen Schulen, die Armen, die drei Tage im Monat fehlten, freigestellt wegen der Menstruation, obwohl es drei auseinanderliegende Tage waren – in letzter Zeit nutzen sogar Männer diese Gelegenheit, aber sie verurteilte niemanden). Während sie sich weiter mit Aspekten ihrer Arbeitsauffassung und Bürgerpflicht auseinandersetzte, fuhr er in ein großes Kaufhaus. Sie stoppte, als sie gleichzeitig bemerkte, daß sie zuviel redete und sie diesen ungewöhnlichen Weg nahmen. Frank – wie romantisch war sein Name, genau wie in den Filmen der wilden Jugend der 50er Jahre, sie war Fan von James Dean und Elvis Presley, sie mußte gestehen, daß der Vater es natürlich nicht wußte – begab sich zur Waffenabteilung, kaufte einen riesigen silbernen Revolver und gab ihn ihr. Damit sie sicher zur Arbeit gehen könne, sagte er ihr in seinem texanischen Cowboy-Englisch. Der Revolver paßte kaum in ihre Tasche, die vollgestopft war mit Übungsblättern der Schüler, Farbstiften und Anis-Bonbons. Schwer und mächtig. Furchterregend. Der Waffenschein würde in einer Woche abgegeben werden. Von dort hat er sie zur Autoabteilung geführt. Frank war sehr entschlosssen. Er hat ein importiertes Auto ausgesucht, rot und imponierend. Der Wagen würde später geliefert werden, schon mit Nummernschild. Es hat ihr nicht genützt zu sagen, daß sie nicht fahren konnte. Was würde sie mit einem Auto anfangen? Sogar darin würde sie vom Vater abhängig sein, hat sie gesagt. Und was würde sie ihm sagen? Wie würde sie die Geschenke erklären? Aber gleich bereute sie es, von ihren Schwächen gesprochen zu haben; Frank wirkte so resolut. Und die große Menge an Dollarscheinen, die er aus der Tasche gezogen hatte, sorgfältig gefaltet. Alle Frauen in den USA fuhren Auto. Überhaupt alle. Sogar die Hausangestellten, die stundenweise arbeiteten, fuhren mit dem Auto zur Arbeit. Und verdienten mehr, wirklich viel mehr, hatten viel mehr Wissen, wie man sich in Gesellschaft bewegt als sie, eine einfache Grundschullehrerin, unterbezahlt von der Gemeinde. Aber er sagte: – Du brauchst dich nicht darum zu kümmern, ok? In einem Monat, wenn ich mit meiner Aufgabe in Brasilien fertig bin, kommst Du mit mir mit in die USA und heiratest mich, in der Kirche, ok? Bis dahin hast Du fahren gelernt, ok? Du hast ja das Auto zum Üben.
Sie traute sich nicht zu fragen, in welcher Kirche sie heiraten würden, methodistisch, puritanisch, baptistisch?
– Aber…, und das Auto? – hat sie schüchtern gefragt, als ob sie an der Sicherheit auf vier Rädern hängen würde.
– Du kannst üben, lernst das Autofahren, richtig? Später schenkst Du das Auto Deinem Vater. Er braucht ein neues Auto. Ihr kommt mit dem Auto zum Flughafen, er fährt mit dem Auto zurück nach Hause. Kann er nicht fahren?
Aber wozu das Auto, wenn sie in die USA fliegen würde? – das hat sie gedacht, aber sie fand den Gedanke kleinlich, detailliert, materialistisch, idiotisch. Wie konnte sie nur so schäbig sein vor diesem Mann, der ihr alles gegeben hatte, alles: ein nagelneues Auto, rot, einen riesigen silbernen Revolver und sogar das Versprechen zu heiraten, im Hochzeitskleid? Aber er hatte eine impulsive Art, pragmatisch, und machte sich nicht offensichtlich so viele Sorgen um diese Fragen.
– Schau, in einem Monat komme ich von meiner Inspektionsreise zurück und Du triffst Dich mit mir am Internationalen Flughafen, ok? Wir fliegen mit der Western genau am 5. nächsten Monats. Sei am Schalter der Western um 8 Uhr abends. Ich werde ein Ticket für Dich reservieren.
– Aber kommst Du jetzt nicht zu mir, um mit meinem Vater zu sprechen, um ihm alles zu erklären?
– Ich muß jetzt weiter, die Schulen inspizieren. Muß sofort weg. Wir reden am Flughafen. Am 5. nächsten Monats, um 8 Uhr abends, ok? Vergiß es bitte nicht. Hier ist meine Karte. Ach, hier, nimm noch einige Dollars und kauf Dir was Du brauchst. Nimm mit was Du willst, ok? Mach Dir keine Sorgen um Übergepäck. Die Interamerikanische Bank zahlt alles. Wir heiraten in Iowa in der presbiterianischen Kirche. Macht es Dir was aus?
Sie war nicht-praktizierende Katholikin, wie alle Brasilianer, und an Sylvester führte sie Rituale für Yemanja aus, aber jetzt würde sie nicht alles kaputt machen, nicht wahr? Nein es ist gut so, die puritanische, nein, die presbiterianische Kirche ist wunderbar. Es ist doch Christentum letztendlich, nicht wahr?
– Dann reden wir später, weil ich mein Gepäck aus dem Hotel holen muß, und in einer Stunde nach Bom Jesus de Itabapoana, oder so was ähnliches. Wir sehen uns, ja?! Paß auf Dich auf.
Wie würde sie es dem Vater erzählen? Wie würde sie das ganze Geld erklären, das Auto, die ungewöhnliche Einladung. Über den Revolver würde sie nichts sagen, nicht mal ein Wort. Er würde es nie verstehen. Das war nur ihre Sache. Was hatte er damit zu tun? Außerdem, er würde in ihrer Tasche bleiben, wenn sie zur Arbeit ging oder irgendwohin, wo es gefährlicher war (aber heutzutage waren alle Orte in Rio gefährlich). Sie würde nichts sagen und fertig. Aber warum dachte sie nur an den Revolver, wenn es viel schwierigere Dinge mit ihm zu besprechen gab? Wie würde sie es anfangen? Er lebte eingeschlossen, seit Jahrhunderten, in diesem nüchternen Büro, vom Boden bis zur Decke mit Büchern vollgestopft, aus dem er nur zum Arbeiten, Essen und Schlafen rausging. Glücklicherweise hatte sie mit ihm ausgemacht, daß er ihr jede Woche etwas Geld – zusätzlich zu dem Gehalt – gab, so konnte sie die unangenehmen wöchentlichen Zusammenkünfte vermeiden, in denen sie ihm um Geld bitten mußte. Aber jetzt war Schluß damit! Sie würde mit ihm dieses schreckliches Gespräch führen, unangenehm, aber endgültig. Danach würde sie für immer frei sein! Für immer! Verheiratet! Im Ausland wohnen, wie alle, die das Land verlassen konnten! Was würde Maria Alice sagen, wenn sie ihr alles erzählte? Es wäre ein Schock! Ach! Sie konnte auf den 5. kaum warten. Der Tag der großen Befreiung ihres Lebens!
Sie kam nach Hause ganz ruhig fing an, die Tür sorgsam zu schließen, eine Vorsichtsmaßnahme gegen die Diebe. Seit wie vielen Jahren machte der Vater dann in ritueller Weise die Bürotür auf und fragte – „Bist Du es, Maria Eugenia? Vergiß nicht, die Tür richtig zu schließen, ja?“ Und die Bürotür schloß sich wieder, ein anti-„Sesam, öffne dich“ in ihrem Leben, und er verschwand bis zum Abendessen, mit jenem Gesichtsausdruck eines verwitweten Vaters, der alles für das Wohl seiner Tochter getan hatte, der seit Jahren nichts für sich ausgab, um die besten privaten Schulen für die Tochter zu bezahlen, um die besten Schuhe und Kleider, alles, im Grunde nur damit sie heiraten konnte. Und sie, nichts. Nie hatte sie diese Schuld bezahlt, nie! Sie würde bleiben und bleiben, für immer, eine Last auf seinem Rücken, belastend, lästig, bis zu seinem Tod! Sie hatte sich sogar an dieses müde Gesicht gewöhnt, das durch die Tür schaute, es war eine Sicherheit, die gleiche Sicherheit wie ihre Stelle als Grundschullehrerin, mit einem Gehalt, das kaum für Verkehrsmittel und Imbiß reichte. Aber es gab ein Register, eine offizielle Nummer, eine Stabilität. Einen Anker überhaupt. Sie würde sich jetzt aber nicht von den Emotionen leiten lassen. Was sie machen würde, sie würde eine Geschichte erfinden über diesen gesegneten Mann, der ihr Leben verändern würde. Oh, ja, mit Gottes Hilfe! Er war von Gott gesegnet, ein Botschafter aller Heiligen im Himmel, Gott mußte ihre Gebete gehört haben, ihre angestrengten Kirchgänge zu der Igreja de Nossa Senhora da Pena, in Jacarepaguá, ein halbes Kilometer da oben im Fels eingraviert, in einem Stein, wo sich nur wenige Fahrer mit dem Auto trauten! Und wie oft, als sie im Zentrum war, war sie auf einen Sprung in der Kirche von Santo Antonio, wie Tausende von Frauen in jedem Alter, aus allen Klassen und Rassen, wie oft hat sie um Mitleid für ihren hoffnungslosen Fall gebeten? Immer, wenn sie konnte, hat sie einen Strauß weißer Nelken gekauft, wenn sie die Treppen der Kirche von Santo Antonio, dem Heiligen der Ehe hochging.
Während sie die Handtasche sorgsam ganz hinten im Kleiderschrank versteckte, immer mit keinen Diebstählen – auch zu Hause – im Kopf, konnte sie es nicht vermeiden, sich an eine Erzählung von Fitzgerald zu erinnern, in der das Mädchen, dumm, in einem Maskenball, von einem richtigen Pfarrer mit einem Kamel verheiratet wurde. Dabei waren die Buckel zwei Freunde, die auf das Mädchen nicht verzichten wollten. Betrogen! Würde sie auch betrogen werden? Positiv denken. Sie hat die Daumen gedrückt und die Augen nach oben gerichtet. Frank würde sie nicht wie eine dumme Gans behandeln! Sie hielt seine Visitenkarte in der Hand, lernte seinen Namen und seine Adresse auswendig und, auf dem Bett sitzend, als ob sie die Lektion für einen Englischtest vorbereiten würde, in dem die Noten immer eine Null, eine Fünf oder eine Zehn waren (wie die brasilianischen Lehrer das Schlimmste aus dem puritanischen Sadismus absorbierten, sie waren königlicher als der König!), hat sie angefangen, eine zusammenhängende Geschichte über das Erscheinen jenes Mannes zu erfinden, ein wahres Wunder, und versuchte dabei zu vermeiden, daß sich ihre Gedanken auf Schaufenster konzentrierten, in denen die Nachthemden aus Seide und Spitzen und die sinnliche Unterwäsche ausgestellt waren, die sie mit seinem Geld kaufen würde! Sie, eine Jungfrau bis zu dem Alter von dreißig und mehr Jahren! Ob er ihr im Bett gefallen würde? Wie könnte sie einen völlig Unbekannten heiraten? Naja, wenn er im Bett nicht gut wäre, brauchte sie nur die Augen zu schließen und etwas vorzutäuschen. Dieses Opfer zu bringen würde sich lohnen, nicht wahr? Sie würde keine andere Gelegenheit bekommen, nie wieder, diese war die Antwort der Götter auf ihre innigsten Wünsche und Gebete. Endlich, dank ihres starken Glaubens, war sie auf dem guten, richtigen Weg! Aber sie war so nervös! Sie hat sich niedergekniet um zu beten und Santo Antonio zu danken. Und ihre Gedanken wollten sich nicht auf die Gebete konzentrieren, die sie in der Kindheit von der Mutter – einer frommen Frau – gelernt hatte, die an dem Tag gestorben ist, an dem ihre Bewerbung für die Stelle als Englischlehrerin angenommen wurde. Das hat die ganze Freude zerstört. Ihre Gedanken waren jetzt immer wieder bei den Regalen in den Läden, auf der Suche nach Schuhen und Kleidern – oder vielleicht einem französischen Parfüm? Nein, das wäre zu viel! Dann ging sie alle Geschichten durch, die sie jemals gelesen hatte – sie hatte keine eigene Phantasie, leider, so viel Lernerei, immer mit der Note eins, hat ihre Vorstellungskraft vernichtet – und suchte nach einer Kurzgeschichte, nach einer Erzählung, nach einem Gedicht, das sie vor dem Vater retten würde, angesichts dieser Not. Vielleicht „Der Pater und das Mädchen“, wie in dem Gedicht von Drummond? Nein, das war nicht der Fall, er war kein Priester, und sie würde nicht wie eine Bäuerin auf einem Pferd wegreiten, durch die Felsen, weg vom Vater! Sie wurde nicht einmal einem anderen versprochen! Alles müßte zivilisiert ablaufen. Sie würde fliegen, auf eine moderne Art und Weise. Sie mußte sich konzentrieren und in ihrem Gedächtnis nach einer literarischen Geschichte suchen, ähnlich wie ihre Geschichte, obwohl das sehr, sehr schwierig war, da keine literarische Figur aus der ersten Welt so sein könnte, wie sie. Sie wollte nicht daran denken. Mit einem Schauder hat sie sich dann an eine Erzählung von Joyce erinnert, „Eveline“, in den Dubliners, in der die Frau im entscheidenden Moment nicht den Mut hatte, die Familie zu verlassen, den autoritären Vater – einen Alkoholiker -, die armen Brüderchen, unterernährt, um sich in die Freiheit des schönen Leben zu begeben, mit Frank, einen abenteuerlichen Seemann. Die Schiffssirene klang am Hafen und sie machte die Augen zu, voller Angst, regungslos, es nicht zu schaffen, für immer wegzugehen, in das südamerikanische Abenteuer hinein. Gottseidank, es war nicht umsonst gewesen, sich das ganze Leben mit Literatur in englischer Sprache zu beschäftigen – nordamerikanische, englische, irische, schottische, galische, senegalische, rodesische, kanadische, aus Puerto Rico, Karibik, Guayana, von Chaucer bis Doris Lessing und von Marlowe bis Ezra Pound. Und jetzt würde sie in einer so offenkundigen Weise die feige Haltung einer Figur aus einem Buch von Joyce – eins der ersten Erzählungsbände, allerdings sehr realistisch, die sie in dem Englischkurs gelesen hatte – nachmachen. Jetzt würde sie ihre Kenntnisse in den Wohnzimmergespräche benutzen können, mit Frank, nach dem Abendessen. Vielleicht eine andere Figur aus der hispano-amerikanischen Literatur, aber dann würde sie in dem magischen Realismus landen, und sie hatte so viel Angst, verrückt zu werden! Ob sie alles erfunden hatte, in einem psychotischen Anfall? Aber die Karte war da. Sie würde seine Karte nicht verlieren. Und, wie eine gute Schülerin, aus Sicherheitsgründen, hat sie seinen Namen und Adresse in ihr kleines Telefonbuch geschrieben. Und wenn er verheiratet wäre? Und wenn er gelogen hätte? In dieser Geschichte könnte ein Verbrechen versteckt sein! Eine Verschleppung? Nein! Dazu war sie viel zu alt…
* * *
Der Morgen war verregnet, das Gepäck war riesig, der alte Vater würde es sicher nicht schaffen, den Koffer in das rote, glänzende Auto zu packen. Das Schlimme war, er war sehr nervös. Ihr Weggehen war keine Erleichterung für ihn. Es war kein gutes Gefühl, zu wissen, daß er ab jetzt allein leben würde, für immer. Er hat sich immer so viel wegen der Kosten beklagt, die sie verursachte, und in dem Moment, wo er endgültig für immer diese Kosten los sein würde, zeigte er sich hochunglücklich. Nicht einmal das Auto war ein Trost! Er hatte immer von dem Tag gesprochen, in dem er ein neues Auto kaufen würde! Jetzt war alles zu Ende. Er würde das große rote Auto behalten, das Geld nur für sich, er könnte alles machen, was er immer für verboten hielt, in die Bars trinken gehen (aber er trank nicht mal), essen gehen (er haßte das, allein zu essen, was würde er machen?). Sie wollte nicht daran denken, das war sein Problem. Durch ihren Kopf ging das Stück von John Lennon: „We gave her everything that our money could buy. She is leaving home after living alone for so many years. Our baby is gone. Bye-bye!“. Und sie war sehr stolz auf sich. Sie hätte das vor zwanzig Jahren machen sollen, in irgendeinem Moment in ihrer Hippie-Phase, als die Mutter noch lebte, aber zu der Zeit hatte sie Mut zu nichts, und sie hätte niemals irgendeinen Schritt getan. Ihre Mutter war so katholisch! Selbst in der Hippie-Ära mußte sie jeden Sonntag mit ihr zur Messe!
Ihr Vater schrie! Er hat immer geschrien, als er nervös war, und er war fast immer nervös. Er hat es nicht geschafft, zu lernen, wie man den Kofferraum aufmachte, es war so ein luxuriöses Auto. Sie hatte zum Schluß aufgegeben und ihm gebeten, sie zur Schule zu fahren. Er beschwerte sich sehr, weil er die Arbeit stehenlassen mußte, um sie hinzufahren und später abzuholen. Es war so weit weg. Und wenn er auf sie warten würde, könnte er sich in der engen Schulbibliothek voller Dachtraufen auf die Anwaltsprozesse nicht konzentrieren, während sie die Vormittagsstunden gab. Es brachte nichts, zu argumentieren, daß es nur für einen Monat war. Nicht alle Lehrerinnen hatten das große rote Auto gesehen. Aber sicherlich hatten die anderen davon gesprochen. Das Schlimmste war, da sie noch nicht fahren konnte, hatte sie wieder angefangen, mit dem Finger nach oben per Anhalter zu fahren, täglich. Und das neue Auto stand dummerweise in der Garage. Der einzige Unterschied war, daß sie jetzt bewegungslos mitfuhr, ohne zur Seite zu schauen, in der Hand jene wunderbare Maschine, silbern, sauber und nagelneu, die in ihrer Tasche steckte, mit sechs Ultrapatronen in der Trommel. Den Revolver, den trug sie immer dabei, in der Tasche, als Zeichen einer inneren Revolution, die sie in ihrem gescheiterten Dasein ausgelöst hatte. Sie würde jetzt jemand sein. Der Vater schrie noch einmal. Er wollte einen Hocker aus der Küche haben, damit er den Koffer darauf stellen konnte und den größeren Koffer ins Auto schieben konnte. Halt! Warte! So würde er das Leder des Koffers und den Lack des Autos zerkratzen. Sie rannte zur Küche, um den Hocker zu holen. Verdammter Hocker – sie, ganz klein, benutzte ihn, um an die Lebensmittel heranzukommen, die Schränke waren immens hoch, für Giganten. Und wenn der Vater es nicht schaffte, das Auto bis zum Flughafen zu fahren? Sie würde ein Taxi nehmen, die Koffer liegenlassen, was interessierte sie das? Sie würde auf jeden Fall fahren, mit dem Revolver und dem Paß in der Tasche!
Sie würde durch die Hölle gehen, um zum Paradies ihrer Freiheit zu gelangen! Ob der Vater diesen Schlitten bis zum Flughafen fahren konnte? Er hatte kaum geübt, aus Angst, das Auto zu beschädigen. Nur gut, daß sie so früh losfahren konnten, wie er das immer machte!
Es waren Stunden riskanter Jonglierkünste, um Unfälle vorbei und mit milimetrischen Abstand um andere Autos vorbeifahrend, wobei die Fahrer schrien und gestikulierten wie Verrückte zu dem Vater, der nichts sah bei seinen Bemühungen, mit seinen kurzsichtigen Augen in der rush-Stunde überhaupt fahren zu können! Sie schwitzte und verkrampfte die Hände um den Revolver. Wie hätte sie wissen können, daß der Verkehr in der Zona Norte so sein würde, wenn alle aus der Arbeit im Zentrum kamen? Und mit einer Grimasse, die ihre Falten kaum versteckten, beschuldigte sie sich selber, weil sie so naiv gewesen war, zu denken, daß sie um diese Zeit ein Taxi finden würde, in diesem Chaos, zu dieser Stunde! Es sah so aus, als ob sie milimeterweise vorankamen. Und es war möglicherweise auch so in der Realität. Warum hat sie das nicht vorausgesehen und war nicht bereits am Morgen zum Flughafen gefahren? Sie würde den ganzen Tag dort warten, und um acht Uhr würde sie vor dem Schalter der Western auf ihn warten, in ihrer besten Kleidung, die sie in Ipanema gekauft hatte. Aber sie schwitzte! Ihre Hände klebten am neuen Leder der Handtasche.
Es war fünf vor acht, als der Vater, nach vielen Irrtümern das Auto bis zur Allee geschafft hatte, die zum Flughafen führte. Die Wahrheit ist, keiner von beiden war jemals auf dem Flughafen gewesen. In ihrer Kindheit, in einer Zeit, in der es der Familie gutging, war sie einige Male auf dem Hafen gewesen, um eine oder zwei Tanten zu empfangen, in der Erwartung, Geschenke zu bekommen. Frank würde nicht auf sie warten. Sie sollte schon beim check in sein! Er war ein entschlossener Mann, und wenn sie nicht am richtigen Ort wäre, zu der abgemachten Zeit, würde er einfach weggehen, für immer. Er würde hinterher keine Entschuldigungen akzeptieren. Und wie würde sie erklären, daß sie das Autofahren noch nicht gelernt hatte? Sie war eine Versagerin, eine komplette Versagerin. Einen wie ihn hat sie sicherlich nicht verdient! Ihr Märchenprinz war erschienen, und sie hatte nicht einmal eine Kutsche finden können, um zum Ball zu kommen! Sie war es nicht wert, befreit zu werden. Ganz weit weg konnte man schon den Flughafen sehen, die Lichter leuchtend in der Nacht.
Vorsicht! Vater, nein! Geh auf die Bremse! Nein! – Jetzt schrie sie, aber es war zu spät. Sie fuhren gegen ein altes Auto, das aber ein sehr resolutes Pärchen drin hatte, das schon rausging, um um Erklärung zu bitten. Nein! Vater! Nicht fliehen! Laß mich mindestens raus! Ich muß heute wegfliegen! Ich kann nicht in einen blöden Verkehrsunfall verwickelt werden! Verstehst Du nicht, Vater, kannst Du das nicht verstehen? Bremse doch, Vater! Bremse! Aber der Vater war wie ein tobsüchtiger Heranwachsender am Steuer, und der ständige Verteidiger der Moral und der Gerechtigkeit floh jetzt niederträchtig vom Tatort, wobei er der einzige Schuldige war. Sie fuhren mit hoher Geschwindigkeit, in die Gegenrichtung zum Parkplatz, auf der leeren Allee! Sie konnte es nicht glauben, was sie sah! Vater! Halte sofort! Das ist ein Befehl! Halt, Vater! Halt! Das andere Auto fuhr hinter ihrem Auto her, klebte an ihnen, und alles geschah zu schnell. Ich sage Dir, halte diese Scheiße an! Das war das erste Schimpfwort in ihrem ganzen Leben. Sie war so nervös, daß sie die Kontrolle verlor und das Steuerrad in Richtung Wiese drehte. Der Unfall war unvermeidbar. Das Auto überschlug sich mehrmals an diversen Plakaten vorbei, alle mehrfarbig und ein leichtes, schmackhaftes und komfortables Leben versprechend. Alles stand in einem Übermaß an Stille. Der Vater machte die Tür auf und sprang wie einem Verrückter aus dem Wagen. Er floh über die Wiese. Die Angst davor, einen Fehler gestehen zu müssen, war so groß, daß er den Kopf verlor. Es blieb ihm nichts an Würde. Ein Mann, der immer ohne Fehler die Gesetze befolgt und die Pflichten erfüllt hatte, unerbittlich, der immer DIE ANDEREN hinter Gitter gebracht hat, weil er WUSSTE, das es gerecht war! Und jetzt schob das Pärchen die Hände durch das offene Fenster an der Seite des Vaters (ihr Fenster blieb immer geschlossen, es war gefährlich, bei offenem Fenster in Brasilien zu fahren, besonders abends und nachts, hat man ihr beigebracht). Und sie würden sie am Hals packen, sie würden sie zu weiß Gott was zwingen, sie würden ihr weh tun, sie würden sie umbringen, sie waren wütend wegen des zerknitterten Autos! Sie hatte keine Mittel, irgend etwas zu bezahlen! Nichts! Nichts! Es sei denn, sie würde den Schalter der Western erreichen, der immer unerreichbarer wurde, wie in einem furchtbaren Alptraum! Sie würde nie rechtzeitig ankommen! Frank war bestimmt schon weg! Er würde diese Geschichte nie akzeptieren! Er würde ihr nie glauben! Alles, was ihr im Leben geschah, war so absurd, und das absurdeste war, daß sie geboren wurde! Und eine Eveline wollte sie nicht sein! Als sie wieder zu sich kam, hatte sie schon zwei Schüsse abgefeuert, gegen die Gesichter, die etwas Unverständliches schrien. Sie ging auf die Wiese und versuchte, über den Zaun zu springen, Richtung Flughafenpiste, das Rohr des Revolvers, heiß, an ihrem Bein, endlich, sie ging durch die Weide, es war nicht anders als die Flucht des Mädchens bei Drummond am Hals eines Pferdes, aber bei ihr mußte es anders sein, vielleicht würde sie das Flugzeug mit Gewalt anhalten müssen, immer näher an der Abflugpiste, die Füße tief im Schlamm der Weide, die Schuhe waren jetzt kaputt, sie würde barfuß fliegen müssen, gleich da vorne war die leuchtende Piste mit magischen Lichtern, wo die Glücklichen Richtung gelobtes Land abfliegen würden!